Medizinische Detektivarbeit an der Uniklinik Marburg Unerkanntes erkennen am neuen „Zentrum für unerkannte Krankheiten“
von Dr. Annika Keulers, 24.06.2014
In der Befundungsliste ist ein CT Becken
mit folgenden Angaben: „metallischer Abrieb nach Hüft-TEP? Rücksprache mit
ZuK“. Was das wohl bedeuten mag? fragt sich Dr. Annika Keulers,
Weiterbildungsassistentin der Radiologie an der Uniklinik Marburg. Bei ihren
Nachforschungen stößt sie auf die spannende Arbeit des neuen „Zentrums für
unerkannte Krankheiten“, in dem ohne interdisziplinäre Zusammenarbeit nichts
geht.
„Rücksprache
mit ZuK“ - Was das wohl bedeuten mag? Der erste Griff geht zur Suchmaschine:
Hier stoße ich das erste Mal auf das „Zentrum für unerkannte Krankheiten“ (ZuK)
in Marburg sowie unweigerlich damit verbunden auf Prof. Dr. Jürgen Schäfer. Für
den Zentrumsleiter ergeben sich ganze 153.000 Treffer bei meiner Google-Suche. Vor
allem seiner in den letzten beiden Jahren steigenden Medienpräsenz scheint dies
zuzuschreiben zu sein: Bekannt wurde der
Kardiologe, als er vor fünf Jahren begann, seinen
Medizinstudenten anhand der TV-Serie "Dr. House" schwierige
medizinische Fälle zu erklären, um das
systematisch-komplexe Denken eines Diagnostikers zu trainieren. Der in den
Medien seither als "deutscher Dr. House" bekannte Arzt erhielt für
diese ungewöhnliche Lehrmethode 2013 den Pulsus-Award als „Bester Arzt des
Jahres“.
Anlaufpunkt für verzweifelte Patienten – und ratlose Ärzte
Wie sein Spitznamensgeber ist Professor Schäfer auf das Lösen von medizinischen Rätseln spezialisiert: "Medizin ist manchmal wie ein Krimi", sagt er und liebt die besondere Herausforderung. Schon seit einigen Jahren ist er der Mann an der Uniklinik Marburg, wenn es darum geht, besonders komplexe Fälle zu entschlüsseln.
Mit seiner zunehmenden Bekanntheit stieg in den vergangenen Jahren auch die
Zahl der Anfragen von Seiten verzweifelter Patienten als auch Kollegen. Die
Zunahme an zugesandten Fällen war im Klinikalltag schließlich nicht mehr zu
bewältigen. Abhilfe soll nun das im
Dezember 2013 offiziell eröffnete Zentrum für unerkannte Krankheiten schaffen:
Es ist das erste seiner Art und offizielle Anlaufstelle für Ärzte und
Patienten, bei denen trotz umfangreicher Untersuchungen im Vorfeld
keine befriedigende Diagnose erstellt werden konnte.
Wer kommt nach Marburg ins ZuK?
Betroffene
Patienten haben oft bereits einen wahren Spießrutenlauf aus Arztbesuchen und
Diagnostik hinter sich. Viele wurden jahrelang von Arzt zu Arzt geschickt,
haben geraume Zeit in Krankenhäusern verbracht und etliche Diagnosen erhalten,
ohne jedoch wirksame Hilfe für ihre Beschwerden zu erhalten - die Frage, an was
sie leiden oder ob sie überhaupt krank sind, bleibt. Häufig handelt es sich um
Menschen mit seltenen Krankheiten, an denen in Deutschland immerhin vier Millionen
Menschen leiden. Bundesweit gibt es mehrere Zentren für seltene Erkrankungen.
Nur woher soll ein medizinischer Laie, wie es die meisten Patienten sind,
wissen, ob er bzw. sie an einer seltenen Erkrankung leidet? Für das neue
Zentrum wurde daher explizit der Name Zentrum für „unerkannte“ Krankheiten
gewählt, ohne einen Verweise auf Ursache oder Häufigkeit zu geben.
Ich sehe was, was Du nicht siehst – das Teamwork
Betroffene Personen oder ratlose behandelnde Ärzte schicken zunächst Ihre bisherigen Befunde und Ergebnisse an das ZuK. Das primäre Ziel ist es, gemeinsam mit den behandelnden Ärzten und den Patienten nach offenen Fragen und Lösungen zu suchen. Der Schlüssel hierzu liegt in der interdisziplinären Zusammenarbeit:
Die Fälle werden jeden Donnerstag in einem Team mit Spezialisten aus Fachgebieten wie Radiologie, Gastroenterologie, Onkologie, Neurologie und Psychosomatik aufgearbeitet. Alle im Zentrum tätigen Ärzte sind „normale“ Klinikärzte des Universitätsklinikums Marburg. In jeder Abteilung gibt es einen Beauftragen für das ZuK, der an den Sitzungen teilnimmt und seinen Fachbereich vertritt. Für die radiologische Klinik ist Dr. Eduard Walthers ins ZuK eingebunden, ein sehr erfahrener Oberarzt, der nicht zuletzt Spezialist für den wichtigen Bereich des konventionellen Röntgenbildes ist.
Zuerst werden die Unterlagen gesichtet und auf etwaige bisher noch nicht erkannte Zusammenhänge durchforscht. Bekanntermaßen hat jede Fachrichtung hierbei ihre eigene Sichtweise auf die Beschwerden, aus denen eine Liste von Differentialdiagnosen erstellt wird. Auch kann mit neuen speziell hierfür ausgerichteten Suchmaschinen ein Zusammenhang zwischen Symptomen aufgedeckt werden. Oft lässt sich allein durch diese gute multidisziplinäre Zusammenarbeit eine Diagnose finden, die anschließend mit weiteren Tests gesichert werden kann.
Falls sich
auf diesem Weg kein befriedigendes Ergebnis finden lässt, erfolgt ein
standardisiertes Symptome-Screening anhand von Fragebögen und Gesprächen. Wenn
nötig kommen auch spezielle Untersuchungsmethoden zum Einsatz, wie
beispielsweise die toxikologische Suche nach Resten von Schwermetallen oder
Spurenelementen, eine Fettsäuren- oder Aminosäurenanalytik oder auch eine genetische
Sequenzierung.
Natürlich spielt die Radiologie im ZuK eine wichtige Rolle
Fast schon selbstredend ist die Radiologie eine Schlüsseldisziplin, wenn es um Diagnosefindung geht. Am ZuK besteht die Arbeit des Radiologen überwiegend darin, bereits durchgeführte Bildgebung noch einmal explizit hinsichtlich verschiedener Fragestellungen genau unter die Lupe zu nehmen und weitere, möglicherweise auch unkonventionelle Methoden der Bildgebung zur Klärung hinzuzuziehen.
Das Team vom Zentrum für unerkannte Krankheiten. (v.l.n.r.):
Dr. Eduard Walthers (Radiologie), Prof. Volker Ellenrieder (Gastroenterologie),
Prof. Jürgen Schäfer (Leiter des ZuK, Kardiologie und Endokrinologie), Prof.
Andreas Burchert (Onkologie), Sabine Battenfeld (ZuK), Dr. Beate Kolb-Niemann
(Psychosomatik), Dr. Bilgen Kurt (Innere Medizin), Prof. Richard Dodel
(Neurologie), Dr. Birgit Kortus-Götze (Nephrologie) und Dr. Andreas Jerrentrup
(stellvertretender Leiter ZuK, Pneumologie).
(Quelle: http://www.hr-online.de/website/radio/hr-info/index.jsp?rubrik=78403&key=standard_document_50306487; abgerufen am 25.06.2014)
Gemeinsam stark – der Erfolg ist die Perspektivenvielfalt
Der
Unterschied des ZuK zu anderen Klinik lässt sich laut Prof. Schäfer so
zusammenfassen: eine Vorliebe und Begeisterung für medizinische Rätsel, eine
überaus konsequente Diagnostik mit langem Durchhaltevermögen und eine tolle
interdisziplinäre Zusammenarbeit. Denn wie der Leiter des ZuK immer wieder
betont: „Das Lösen komplexer Fälle ist echte Teamarbeit“, es
benötigt interdisziplinäre Zusammenarbeit und fächerübergreifendes Wissen. Beides kommt im
aktuellen Gesundheitssystem mit der zunehmenden Spezialisierung oftmals leider
zu kurz. So ist es verständlich, dass eine Symptomatik von verschiedenen
Fachrichtungen auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt wird: Von einem
Gynäkologen werden Unterbauchschmerzen anders bewertet als durch einen Kollegen
der Chirurgie oder der inneren Klinik. Selbst innerhalb einer Disziplin wie z.B.
der Chirurgie haben Viszeralchirurgen andere Ideen, was hinter den Beschwerden
stecken könnte als z.B. Unfall- oder Herz-Chirurgen. Gleiches gilt für die
unterschiedlichen Blickwinkel von Kardiologen, Nephrologen, Gastroenterologen
und Onkologen. Alle sind Internisten, nur besteht durch die zunehmende Arbeit
im jeweiligen Spezialgebiet die Gefahr, mit der Zeit den Blick auf das „große Ganze“
zu verlieren. Genau hier liegt die Ursache für die oft unerkannten Krankheiten und
gleichzeitig die Stärke des Marburger Zentrums.
Die Fälle – oder wie aus der Psychose eine Stoffwechselerkrankung wird
Bereits vielen Patienten konnten Professor Schäfer und sein Team in den vergangenen Jahren helfen. Oft ist der erneute, ganzheitlich Blick eines bisher nicht involvierten Teams ausschlaggebend, um das Problem im Ganzen zu erfassen, so dass es am Ende nur einzelne gezielte Fragen oder Tests braucht, um zu einem Ergebnis zu kommen:
- Ein Patient mit der Diagnose "Entzündung der Herzklappen" hatte bei genauerer Betrachtung einen systemischen Lupus.
- Eine andere Patientin galt als „psychotisch“; ihre Symptome waren jedoch durch eine seltene Kupferspeicherkrankheit, den Morbus Wilson bedingt.
- Ein sehr dünner, junger Mann lebte jahrelang trotz vehementen Widerspruchs des Patienten mit der Diagnose „Magersucht“. In Marburg wurden eine leichte Verkrümmung der Wirbelsäule, auffällige Muttermale an der Hand sowie kleine „Schwimmhäute“ zwischen den Fingern beobachtet. Bei der Eingabe aller Symptome in eine spezielle Datenbank für seltene Krankheiten fanden die Ärzte schließlich heraus, dass der Patient am „Frieman-Goodmann-Syndrom“ litt. Dieses Syndrom war bisher nur einmal weltweit diagnostiziert worden.
- Ein älterer Herr wiederum zeigte eine unnatürlich dunkle Hautfarbe. Seine Frau berichtete, dass er manchmal im Garten kollabierte und sich nicht mehr die Zähne putzen konnte. Diese seltsamen Symptome wurden in Marburg der Diagnose Adrenoleukodystrophie zugeordnet, auch hier sind weltweit nur wenige Fälle bekannt.
Unser Fall
Bei einem ZuK-Patienten bestand der Verdacht auf „metallischen Abrieb nach Hüft-TEP“ (s.o.), den ich als Becken-CT in der Befundliste unserer Abteilung fand. Die Geschichte hinter diesem spannenden Fall kann beim Nachrichtenmagazin SpiegelOnline nachgelesen werden:
Ein
rätselhafter Patient: Loch in der Kugel (SpiegelOnline: 07.02.2014)
http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/raetselhafter-patient-das-loch-in-der-kugel-a-951854.html
Hinter
einer relativ banal klingenden Fragestellung wie „metallischer Abrieb nach
Hüft-TEP?“ kann sich also ein hochkomplexer Fall verbergen. Hier wurde ein
Dual-Source-CT des Beckens gemacht, um die verschiedenen Absorptionsspektren zu
untersuchen und herauszubekommen, um welches Material es sich bei den
Fremdkörpern im Becken handelt. Dies genauer zu erläutern würde hier den Rahmen
und auch unser Ausbildungsniveau sprengen. Aber ich hoffe, ich konnte euch
einen kleinen Einblick in die spannende Arbeit des ZuK geben, die inspirierend
für jeden ist, der Medizin als Detektivarbeit sieht!
Kontakt
zuk@uk-gm.de
Zentrum unerkannte Krankheiten
Universitätsklinikum Gießen – Marburg
Standort Marburg
Baldingerstraße 1
35043 Marburg
Quellen
Ein rätselhafter Patient: Loch in der Kugel – In: SpiegelOnline.de, 07.02.2014
Zentrum für unerkannte Krankheiten: „Man muss Patienten zuhören“. In: FAZ.net, 26.11.2013
Uniklinik: Unerkannten Krankheiten auf der Spur. In: Oberhessische Presse: Marburg: Lokales, 27.11.2013
Schäfer, Jürgen (2013): "Medizin ist manchmal wie ein Krimi". Marburger Buchverlag
Jürgen Schäfer: "Deutscher Dr. House" heilt unerkannte Krankheiten. In: Welt.de, 08.08.13