Einmal China und zurück
Eine radiologische Reise in eine alte deutsche Provinz
von Simon David Sprengel, 05.02.2015
Mein Finger fährt über meinen alten Globus, durch den Staub, der dicht die russische Tundra und Taiga bedeckt, hinüber in den fernen Osten. Es dauert bis ich Qingdao an der Ostküste des chinesischen Reiches am Gelben Meer gefunden habe. Hierhin soll meine Reise also gehen - auf den Spuren der großen Angela Merkel zum Zwecke der Völkerverständigung; im Auftrag meines Chefs Herrn Prof. Kauczor im Dienste der Radiologenverständigung.
Qingdao ist die ehemalige Hauptstadt des Deutschen Schutzgebietes „Kiautschou“. Verblieben sind von der alten deutschen Kolonie, so lese ich in verblichenen Reisedokumenten alter Abenteurer (wikipedia), lediglich noch vereinzelte Sandsteingebäude und die Braukunst, mit der ich schon einmal auf einer beschwerlichen Air China-Reise durch die wüsten Winde des Taifuns „Halong“ intensivere Bekanntschaft machen durfte. In Erinnerung an diese düstere Stunden werfe ich eine Flasche Iberogast in meinen kulturellen Beutel und ein paar Tabletten Dimenhydrinat hinterher.
Begleitet werde ich auf der Fernreise von zwei Kollegen und vielen Heidelberger Studentenküssen (Konfekt aus Nougat auf einem Waffelboden, der von einer Zartbitter-Kuvertüre umhüllt ist), die ich den Eingeborenen vor Ort als Gastgeschenk gedenke mitzubringen, wie man mir in weiser Voraussicht geraten hatte.
An einem novemberlichen Freitagabend verlässt die kleine Reisegruppe sodann im Schutz der hereinbrechenden Dunkelheit Deutschlands ländlich schönstes Dorf (laut Hölderlin – Heidelberg) und zieht gen Norden. Wir kommen nur langsam voran. Regen peitscht gegen die Windschutzscheiben und in die müden Gesichter. Unter Aufbringung der letzten Kräfte erreichen wir den Flughafen zu Frankfurt. Im Freihandelskontor fülle ich die Flüssigkeitsvorräte und begebe mich zum wartenden Luftschiff. Die Besatzung geleitet uns zu den Sitzplätzen. Ich zwänge mich ans Fenster und vor meinem inneren Auge erscheinen Hockergräber aus der Jungsteinzeit. Mein von früheren Abenteuern geschundener Körper schmerzt und es dauert, bis ein unruhiger Schlaf mich übermannt. Als die östliche Morgensonne mit ihren ersten sanften Photonen das Gedöse beendet, liegt hinter mir die Vergangenheit und vor mir die Zukunft, wie ich mit Blick über die Weiten der russischen Steppe in meinem Reisenotizbuch vermerke. Mein Kopf dröhnt mittlerweile im Gleichklang mit den mächtigen Turbinen, doch lässt die Vorfreude und Neugier die Strapazen der Fernreise verfliegen. Beim Zwischenhalt in Shandong werden wir erstmals von unserem hartnäckigen Begleiter der nächsten Tage begrüßt: grau hüllt er uns ein, verdunkelt den Himmel; er riecht nach brennenden LWK-Reifen und wird uns nur kurz von der Seite weichen.
Als wir Qingdao erreichen, ist es bereits wieder düster und der Himmel wird nur in der Ferne von glühenden Schloten erhellt. Nach einem herzlichen Empfang werden wir vom eifrig-wuselnden Begrüßungskommittee in einem Kleinbus verstaut und flux in das luxuriöse Hotel verfrachtet, welches mit seiner opulenten Marmorlobby genauso gut in Las Vegas stehen könnte. Man gibt unserer kleinen tapferen Expeditionsgruppe eine halbe Stunde zum „frisch machen“ und ich spüle mir schnell mit gechlortem Wasser die Falten aus und ein Lächeln ins Gesicht. Es folgt ein Abendessen am asiatisch runden Tisch mit karussellartiger Tischplatte. Mein nervöser müder Magen wünscht sich Reis, er wünscht sich Omas Hühnchensuppe. Ich schau zu ihm herab, er will sich umdrehen und grummelt grimmig vor sich hin. So schütte ich ihm einfach ein Tsingtao-Bier über den Kopf und zücke die Stäbchen. Ich weiß nicht genau, was ich dann esse, aber das kenne ich aus unserer Klinikkantine. Angesichts der liebevoll zubereiteten Speisen, welche vor mir rotieren, bin ich jedoch gewillt den Begriff „Kulinarik“ in den Mund zu nehmen. Ich kaue und konversiere soweit mein schlafendes Großhirn das zulässt. Im Nebensatz erfahre ich, dass wir bereits am nächsten Morgen unsere Vorträge halten dürfen, für die wir eingeladen wurden. Eine Planänderung: Ich muss mich nervös kratzen; als gemeiner Deutscher habe ich wohl eine leichte Allergie gegen chinesische Spontaneität. Was gestern galt, ist heute alt, dichte ich mit dem Bierglas in der Hand. Jetzt wacht mein Großhirn auf und sieht vor sich klaffende Lücken in der Powerpoint-Präsentation; dazu schallt es „Gānbēi!“ (“Prost!”) von nah und fern. Als ich dann als letzter den Speisesaal verlasse, merke ich, dass ich am anderen Ende der Welt sein muss, so schräg steht die Welt.
Der nächste Tag beginnt mit diffusem Sonnenlicht, kleinen Croissants, die ich zwischen den Nudelbergen am Buffet gefunden habe und der Gewissheit, dass 7 Uhr morgens irgendwie eigentlich mitten in der Nacht ist. Danach trage ich Ming-Vasen nach China und doziere auf dem Qingdao Röntgenkongress über entzündliche Knochenerkrankungen und deren Diagnose. Ich finde mich durchaus unterhaltsam; bei den Anwesenden bin ich mir nicht so sicher, ob sie das genauso sehen. Trotz des hochmotivierten (A)Synchronübersetzers. Scheinbar diagnostiziert man in China Knochenentzündungen noch vorwiegend klinisch ohne Radiologen (O-Ton: „Making the diagnosis is NOT a problem“). Meine Kollegin spricht über neue Verfahren zur Knorpelbildgebung, und als es nach Technologietransfer riecht, kommt auch in unser müdes Publikum Bewegung. Ich betrachte mich in der spiegelnden Teekanne und finde mich ziemlich dünn und bleich. Nach neun Tassen Jasmin-Tee bin ich noch immer genauso bleich, aber zumindest nicht mehr müde. Es folgt ein weiteres wunderbares Dinner mit den früheren Radiologen-Chefärzten der Region und mit mir sitzen gefühlt 1000 Jahre Berufserfahrung am Tisch. Wir lächeln gegen die chinesische Sprachmauer an und verkosten delikate Dumplings aller Sorten. Danach beginnt unsere weite Reise durch die Krankenhäuser der Stadt (die übrigens über 8 Millionen Einwohner hat), von dem neuen Brust-Diagnosezentrum über die längste Autobahnbrücke der Welt (42km) hin zu einem neu gebauten Klinikkomplex in weißem Marmor mit einer Privatstation mit beeindruckenden ubiquitären, dickflorigen blutroten Teppichböden. Die Geräte sind auf dem neuesten Stand, die Mitarbeiter lächeln, nur die Fassaden bröckeln und singen ein trauriges Lied von der Nachhaltigkeit in China. Wie Deutschland, nur umgekehrt.
Auf dem Weg zurück in das Hotel halten wir kurz am neuen Hafen, der Olympic Sailing Marina, dem Austragungsort der Segelwettbewerbe der letzten Olympischen Spiele. Ich darf kurz gemeinsam mit meiner Melancholie aussteigen und der roten Sonne zuschauen, wie sie langsam im Gelben Meer versinkt. Ein Bild wie ein Lied der Flippers, nur mit Smog zwischen den Zeilen. Ich wende mich ab...
Am nächsten Tag reisen weiter nach Yantai, einer „Kleinstadt“ (6 Millionen) in der Provinz Shandong. Man hat unseren deutschen Radiologenzirkus spontan an die Kollegen dort vermittelt. Unser Kleinbus wird auf der Autobahn einfach vom Industrienebel verschluckt und 350 km später wieder ausgespuckt. Direkt an der Küste steht das Klinikum und daneben unser Hotel, in dem auch Blofeld hätte wohnen können; direkt dahinter das kleine Leuchtfeuer, das der Stadt ihren Namen gibt. Wir halten tapfer unsere Vorträge und lassen den Tag bei einem weiteren großen Dinner ausklingen, bei dem unsere Gastgeber die Choreographie des abwechselnden Zuprostens perfektioniert zu haben scheinen. Dem Reiswein kann ich mich nicht entziehen, aber die Hühnerfüße gehen an mir vorüber.
Auf dem Rückweg von Yantai nach Qingdao scheint dann zum ersten Mal die Sonne; der graue Vorhang fällt und lässt Land und Menschen frei atmen. Es enthüllt sich ein hügeliges Hinterland mit unzähligen Feldern und Plantagen, immer wieder unterbrochen von neuerbauten Geisterstädten, in denen sich die Hochhäuser wie mahnende Finger in den Himmel strecken. Als wir in unser Hotel an der Uferstraße zurückkommen ist es schon wieder düster und es weht ein letzter frischer Wind vom Meer. Nicht ganz ohne Wehmut verlassen wir am nächsten Morgen um 5 Uhr morgens die Stadt und fliegen über Peking gen Westen zurück. Das Abenteuer hätte gerne weitergehen können, denke ich im Flugzeug, aber als im Gang neben mir die Stewardess umknickt und meine Kollegin zu Hilfe eilend ruft: „I think we need imaging!“, weiß ich, dass man uns in der Heimat dringend braucht.